A.

Abschied nehmen

Ich bin auf dem Land. Es herrscht Stille. Vereinzelt fahren ein paar Autos durch das Dorf.
Der Hahn des Nachbarn kräht seit zwei Stunden aus mir schlichtweg unerfindlichen Gründen immer mal wieder und auch ich liege seit 1.30 Uhr wach. Meine Gedanken kreisen. Erlebnisse aus einer längst vergessen geglaubten Vergangenheit bahnen sich ihren Weg in die Erinnerung. So ist das wohl, wenn eine Ära zu Ende geht, wenn sich eine Generation verabschiedet.

Ich hatte als Kind immer einen bestimmten Albtraum, an den ich mich auch heute noch erinnere. Dieser Traum kam immer wieder, lief immer wieder gleich ab. Dieser Traum machte mir Angst. Ein Auto. Eine Abfahrt. Ein Umdrehen und wissen: dies ist ein Nie-Mehr-Wiedersehen. Das Ende. Immer und immer wieder. Aufwachen. Schweiß gebadet. Und alle sind noch da. Welch ein Glück. Es war nur ein Traum. Seit damals habe ich ihn niemals wieder geträumt. Doch jetzt ist er zur Wirklichkeit geworden.

Früher verbrachte ich viel Zeit bei meinen Großeltern im Dorf. Es war schön. Unbeschwert. Ich erinnere mich an die Sommer. Den Garten. Den Bach, der das Haus von der großen Rasenfläche trennte, die durch eine Straße vom Wald abschnitten war. Dieser Bach. Die Wiese. Der Fluss auf der anderen Seite. Butterbrote und Kakao zum Frühstück. Das bedeutet Sommer. Sommerferien. Endlos viel Zeit zum Spielen. Lesen. Sein. Uralte Benjamin-Blümchen-Kassetten finden. Hören. Wiederholen. Und sobald man die Geschichte mitsprechen konnte, war das Ende der Sommerferien gekommen.

Das wiederholte sich Jahr um Jahr. Es war ein verlässlicher Prozess. Ich wurde älter und die Dauer der Ferien immer kürzer. Irgendwann verbrachte ich sie nicht mehr bei meinen Großeltern. Und irgendwann gab es sie für mich gar nicht mehr. Erwachsenwerden. Ausziehen. Umziehen. Das eigene Leben leben.

Vieles so selbstverständlich. Nach Hause fahren. Besuchen. Ja, man müsste sich mal öfter melden. Mal schreiben. Telefonieren. Das geht doch alles. Alles Gute zum Geburtstag. Schon wieder Weihnachten. Guten Rutsch. Alles Gute zum Geburtstag. Fröhliche Weihnachten. Gutes Neues Jahr!

Dann folgt die Zeit des Abschieds. Das Unabänderliche. Man rechnet immer damit, aber man rechnet nicht damit. Es überrascht. Spontane Heimreise. Abschied. Die Zeit der Unwirklichkeit. Und die Zeit der Sorge. Der erste Teil ist gegangen. Wie wird es der zweite überstehen? Damit klarkommen? Wieder ins Leben zurückfinden?

Zwei Weihnachten ohne ihn. Auf den Tag genau ein Jahr und elf Monate später. Sie kam nicht mehr wieder richtig klar. Sie war im Leben, aber doch nicht mehr so glücklich, wie sie es mit ihm war. Es hatte sich vieles verändert, nicht zuletzt sie selbst.

Ein Jahr und elf Monate später sind wir alle wieder am gleichen Ort wie damals. Wir kennen den Ablauf. Er ist der gleiche wie damals. Und doch schmerzt es nicht weniger. Im Gegenteil. Beide sind gegangen, wieder vereint. Aber es fehlt nun so ein großes Stück Familie. Eine Generation ist einfach nicht mehr da. Die Geschichten sind noch in unseren Köpfen, aber sie werden nicht mehr von den Protagonisten erzählt. Sie sind lediglich überliefert. Es ist nichts mehr, wie es war.

Und so kommen sie, die Erinnerungen an längst vergessen geglaubte Zeiten. Dinge, an die man Jahrzehntelang nicht mehr dachte, sind auf einmal wieder präsent. Zaubern ein Lächeln und wärmen so sehr. Möchte sie aufschreiben, festhalten, nicht wieder vergessen. Denn so lange wir erinnern, lebt die Geschichte weiter.

A.

Alles wie immer. Alles anders.

Segelboot auf dem Meer in schwarzweiß

Es ist Weihnachten und ich fahre nach Hause. Alle Jahre wieder. Alles wie immer. Und doch wird diesmal alles anders sein. Eine wichtige Person wird fehlen. Mein Opa ist im April diesen Jahres gegangen und wird nicht mehr wieder kommen. Eine meiner wichtigsten Bezugspersonen. Wir hatten ein schwieriges Verhältnis, als ich klein war. Doch je älter ich wurde, desto besser verstanden wir uns. Er war immer so stolz auf sein Mädchen. Er fand es ganz toll, dass ich nach Hamburg ging. Für ihn war das was ganz Besonderes, das er immer wieder gern erzählte. Er war es, der mich nach der Trennung von meinem damaligen Freund nach 5 Jahren Beziehung aufbaute und beim Mittagessen zu mir meinte: „Du machst das schon. Du brauchst keinen Mann, du bist stark und gehst deinen Weg.“ Das ist der Satz, an den ich mich wohl immer erinnern werde.

Er fehlt mir so sehr und das merke ich vor allem jetzt, da ich hier bin. All die Jahre fuhr ich immer nach Hause. Weihnachten und sein Geburtstag. Das waren feste Termine, an denen es nichts zu rütteln gab. Ich war mir bewusst, dass unsere Zeit begrenzt ist und dennoch kam es unerwartet und plötzlich. Es war mein Mädchentraum: Sollte ich jemals heiraten, soll er das erleben. Das ist jetzt vorbei. So vieles ist vorbei und es macht mich traurig. Damit muss man wohl leben. Nichts bleibt für immer.

Mir ist ein wenig mulmig zumute was den morgigen Abend angeht. Vieles wird wie immer sein. Aber es wird anders sein. Sehr anders.